ein paar Gedanken von mir nach der Wendepunkte-Lesung im Glitch und dem Release-Event von Ausgabe 06.
"Wie dem auch sei, wenn ein Thema höchst umstritten ist – [...] kann man nicht hoffen, die Wahrheit zu sagen. Man kann nur zeigen, wie man zu der Meinung gelangt ist, die man hat. Man kann seinem Publikum nur die Möglichkeit geben, ihre eigenen Schlussfolgerungen zu ziehen, indem sie die Begrenzungen, die Vorurteile, die Eigenheiten der Sprecher*in beobachten. Hier ist Fiktion wahrscheinlich wahrheitsgemäßer als Tatsache."
– Virginia Woolf
Ich möchte nicht so tun, als könnte ich euch die Wahrheit darüber sagen, was es braucht, um diese Welt zu einem besseren Ort zu machen. Aber ich kann eine sehr subjektive Meinung darüber formulieren, was ich denke, was die Welt zumindest ein bisschen besser macht: Gemeinschaft.
Eine Gemeinschaft, die alle Altersgruppen, Geschlechter und Bildungsstände einschließt. Eine Gemeinschaft, die offen ist für Menschen, die ihr ganzes Leben kreativ waren und diejenigen, die gerade erst die Freude daran entdecken. Eine Gemeinschaft, in der Menschen ihre Sicht auf die Welt, auf Emotionen, Erinnerungen und Ähnliches teilen können – durch Worte, Bilder, Musik und Tanz. Ein Raum, in dem andere sich einfühlen, mitmachen und erkunden können.
Bei der Wendepunkte-Lesung Foto von Lilly Gladenbeck
Was ich hinter dem Laptop manchmal vergesse...
Wenn ich stundenlang allein hinter meinem Laptop arbeite, hier und da ein Telefonat führe, mich um Finanzen, Bürokratie und die Website kümmere, lange Koordinations-E-Mails und „How To"-Handouts schreibe – vergesse ich manchmal, wofür ich das alles eigentlich mache. Ich vergesse, wie es sich anfühlt, wenn jemand danach sagt: „Weißt du, ich gehe nie zu solchen Veranstaltungen, eigentlich habe ich noch nie geschrieben – aber gerade jetzt habe ich zum ersten Mal in meinem Leben ein Gedicht geschrieben. Und ich habe es geliebt.“
Wie es sich anfühlt, Menschen über die gelesenen Texte diskutieren zu sehen, zuzuhören, wie sie die Themen mit ihrem eigenen Leben verbinden – egal, ob sie 20, 50 oder 80 Jahre alt sind. In lächelnde Gesichter zu schauen beim Applaus. Wenn ich danach für die ganze Arbeit ein Dankeschön von Herzen bekomme – erinnere ich mich wieder, warum ich eigentlich all die Stunden für die turtle investiere. Ich erinnerte mich an das Gefühl, wenn Menschen zu Tränen zu gerührt waren, wenn sie meine Worte hörten. Wie es sich anfühlte, wenn sie nach einem Event zu mir kamen und fragten, wo sie meinen Text finden konnten, weil sie ihn so sehr mochten. Wenn sie mich kritische Fragen fragten. Wenn sie sagten: "Der Text tut an den richtigen Stellen weh". Wenn ich Aufmerksamkeit eines ganzen Raumes auf politische und emotionale Themen lenken konnte, die mir etwas bedeuten. Auch erinnerte ich mich an dieses Gefühl in mir, als ich Alicia Villanueva auf der Bühne ihren Text über Müdigkeit beim Hebammenstaatsexamen vorlesen hörte. Der Gedanke, dass wir bei der turtle Menschen die Möglichkeit geben, das ebenfalls zu fühlen, macht mich so glücklich. Und seit dem ersten Event im März 2021 wächst dieses Gefühl stetig.
Ich erinnerte mich wieder an den Wert von Gemeinschaft, als ich bei der Wendepunkte-Lesung auf der gemütlichen Couch saß und in den Pausen mit meinen Freund*innen, deren Freund*innen und mir bis dato Fremden sprach. Während ich dort auf diesem kleinen Sofa saß, umgeben von Menschen, die an diesem regnerischen Abend gekommen waren, um den Worten anderer zuzuhören und darüber zu sprechen, erinnerte ich mich. Turtle-Events fühlen sich so an. Ich fragte mich, was wohl die Leute dachten, die hineinschauten und lächelte bei dem Gedanken, dass sie das nächste Mal vielleicht mitmachen könnten.
Bei der Wendepunkte-Lesung Foto von Lilly Gladenbeck
Gemeinschaft als Protestform
Ich denke, ich habe vergessen, warum die turtle – wie auch das Glitch-Buchladen-Kollektiv – wichtige Protestformen in unserer Gesellschaft sind. Sie bieten sichere Räume, in denen Menschen zusammenkommen können, um ihre Leidenschaft ohne (Leistungs-)Druck auszudrücken und zu entdecken. Um miteinander zu sprechen und sich selbst zuzuhören. Um Schönheit und Hoffnung in der Welt zu finden. Um inspiriert zu werden und zu staunen, was sowohl andere als auch wir gemeinsam erreichen können. Diese Energie trägt dazu bei, die Welt ein Stück besser zu machen.
Epilog: ein kleiner Traum
Und heute wachte ich auf und dachte, ich würde mir wünschen, dass die turtle einen physischen Raum hat – ein Café. Tagsüber können die Leute Bücher kaufen und Kaffee trinken. Den ganzen Tag lesen und schreiben. Nachts können sie Bier trinken und dasselbe tun, aber nicht allein. Sie können kommen und im Workshopraum malen oder tanzen. Sie können auf der kleinen Bühne Musik machen oder ein Gedicht vortragen, wenn ihnen danach ist. Zu jeder Tageszeit kann jemand auf die Bühne springen und sagen: „Ich möchte etwas Schönes teilen!“
Es würde Workshops geben zum Schreiben, Tanzen, Collagen machen, Töpfern, Malen, Singen, Stricken, wie man meditiert und Zeit in seinem Leben zum Lesen findet. Wir würden Bücherspenden annehmen und diese für 2 bis 5 Euro pro Stück wieder verkaufen, um ihnen ein neues Zuhause zu geben. Daher wären die Wände im Hauptraum voller Bücher und im Workshopraum voller Gemälde und Spiegel. Getränke und Essen wären sehr günstig (mit einer Preisspanne, aus der man wählen kann), um den Raum am Laufen zu halten. Für alle zugänglich nach dem Prinzip "Zahl, so viel du kannst".
Würdest du einen solchen Raum in München schätzen?
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