von Diane Gill

Der Moment konnte jederzeit eintreten. Eine einzige Kundin setzte sie jedesmal unter Spannung, wenn diese den Lebensmittelladen betrat.
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Ihre Hände gerieten in Unruhe. Sie räumte gerade beim Obst und Gemüse Ware nach und ließ den Korb in das Regal hineinfallen. An der Kasse hatte sie Kontakt zu den unterschiedlichsten Menschen, aber die wenigsten wechselten mehr als ein paar sich wiederholende Worte mit ihr.
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Ihre Angst hielt sich und verselbstständigte sich. Der besagte Moment war abhängig von einem alleinigen Menschen. Eine bestimmte Kundin kaufte sonst im billigeren Lebensmittelladen nebenan. Einzelne Artikel kaufte sie jedoch auch hier.
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Die Leiter der beiden Lebensmittelgeschäfte wussten, dass die beiden Läden gut nebeneinander existieren konnten. Die Lebensmittelläden taten sich nichts. Ein jeder hatte seine Kunden.
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Sie hatte Angst vor einer Kundin.
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"Es ist solch eine imaginäre Macht, die da herrscht", dachte sie. "Macht achtet nicht auf jemand anderen. Der Ohnmächtige denkt womöglich noch über sein eigenes Vergehen nach. Der in der Position der Macht tut es nicht."
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Sie schwitzte bei der Vorstellung, die Frau zu sehen. Immer wieder lief der gleiche Film in ihr ab.
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Vor wenigen Wochen war sie selbst nach nebenan gegangen. Man musste nicht immer teuer kaufen. Sie kokettierte sogar damit, Kundin von nebenan zu sein. Jedoch gab es einen tatsächlichen Grund, den Laden nebenan aufzusuchen: sie konnte unbemerkt an ihr 9er Pack Kräuterlikör gelangen. Wieder zurück im Laden, in dem sie arbeitete, würde sie diese Packung in ihrem Spind verschwinden lassen.
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Die Situation nebenan war ein Aufschrei, ein kurzer Blick. Ihr Auge schien einen Riss zugefügt zu bekommen. Das Entsetzen zog vom Auge her in ihren Kopf, dann begannen die Hände zu zittern.
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Diese eine Frau sah sie und den 9er Pack und gab zu erkennen, dass sie die Mitarbeiterin von nebenan kannte – und das Prüfsiegel "Alkoholikerin" verteilte sie in dem kurzen Moment mit einem schadlosen Blick auch.
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Die Verkäuferin war schnellstmöglich zu ihrem Spind hinüber gelaufen und hatte hastig einen tiefen Schluck genommen. "Irgendwie ging es doch immer" blieb in ihrem Kopf haften und sie wandte sich der Arbeit zu, der Puls ging rascher, sie atmete laut ein und aus.
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Die Frau hatte sie verurteilt, als könne man als Fremde dies einfach tun, als habe ein Mensch das Recht einen wildfremden anderen zu registrieren, einzuordnen und abzulegen.
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Dieses Spiel blieb über Wochen gleich. Sie zog sich in unterschiedlichen Arbeitssituationen zu ihrem Spind zurück. Irgendwann würde es jemand bemerken - wenn das nicht schon geschehen war.
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Wenn sie die Kundin eine oder zwei Wochen nicht sah, fühlte sie sich zunehmend befreit. Eine ganz andere Stimmung stellte sich ein. Ihre Arbeit verrichtete sie gern.
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Ihr war bewusst, dass die Kundin trotz ihrer Macht eine Stellvertreterfunktion innehatte. Sie stand nur für das Wissen. Das Wissen um sie selbst.
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Das Wissen teilte sie zu Hause mit ihrer Katze. Sie war für den Job nach München gezogen und hatte noch keine Kontakte knüpfen können.
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Zuweilen war sie beim Kassieren auch spontan fröhlich: als eine Dame ihr versichern wollte, die Artikel in ihrem Einkaufswagen seien aus dem Laden nebenan, lachte sie auf und sagte, "Ich weiß, ich kaufe dort auch." Ob dieser Äußerung machte sie sich keine Sorge, denn ein guter Kontakt zum Kunden war dem Filialleiter wichtiger als die absolute Identifikation mit dem eigenen Unternehmen.
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Da stand die Kundin plötzlich vor ihr. Sie hatte wohl den Wortwechsel verfolgt, jedoch kein Wort beigesteuert zu dem Gespräch, blickte ihr in die Augen. Mitwissen schien sich auf Mitwissen zu beziehen.
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In dem Moment, als die Kundin gegangen war, sagte sie zum Abteilungsleiter, sie müsse mal kurz nach hinten, es sei dringend. Schnell war sie an ihrem Spind.
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Wochen zogen sich hin. Die Kundin kam fast regelmäßig. Sie kaufte Honig und Schokolade, manchmal kaufte sie Müsli. Diese Produkte waren wohl nebenan nicht so gut. Die Kundin zahlte immer bar und ein leises Lächeln machte sie bei allem sympathisch.
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Die Verkäuferin kannte die unterschiedlichsten Arten von Lächeln. Es gab ein oberflächliches, hingeworfenes und ein herausgequetschtes Lächeln eines Menschen, der nicht gerne spricht.
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Die Kundin sah ihr manchmal an der Kasse in die Augen – und jetzt – Monate später ging ihr hierbei ein Licht auf. Die Frau schien niemandem von ihrer Begegnung nebenan erzählt zu haben. Keiner wusste um die Flaschen Kräuterlikör in ihrem Spind. Denn in dieser Zeitspanne wäre sonst etwas geschehen. Ein Gespräch mit dem Abteilungsleiter oder sogar mit der Filialleitung wäre geführt worden.
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Sie hatte sich die Menschen in diesen letzten Monaten genau angesehen. Sie erkannte Typen, Charaktere, Persönlichkeiten, nette Leute und tatsächlich liebenswerte Menschen.
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Nun überlegte sie fieberhaft, in welche Kategorie sie die Kundin packen würde. Sie hatte sich die Frau sehr gut angesehen. Bei ihr konnte sie den Charakter ausmachen.
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Es war eine ruhige Frau, die sehr freundlich war und auch sein wollte, aber auch ein wenig schüchtern war. Ihre eigene Gedanken überschlugen sich. Die Kundin mochte Menschen. Mochte die Kundin womöglich sie, die Verkäuferin?
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"Nein", sagte sie sich. "Nein." Im Einzelhandel musste man lernen zu differenzieren. Die Menschen waren nett. Aber auch oft herablassend, zuweilen arrogant und in Stresssituationen unwirsch, störrisch und aggressiv.
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Die Kundin kannte keine Aggressivität.
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Die Verkäuferin erkannte sich im Verhalten der Kundin wieder. Sie war zudem ein einfacher, sehr geradliniger Mensch. Aber sie wollte auch nicht anders sein. Sie wollte nicht so kompliziert sein wie so viele der Kunden, die sie unweigerlich kennenlernte.
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Eine Art Befreiung legte sich um sie, als ob eine elegante Frau sich ein Schultertuch umlegt.
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Die Kundin betrat wiederholt den Laden, nickte oder die Augen zeigten ein kurzes Erkennen. Bis sie an der Kasse irgendetwas sagte, es klang wie: "Ich habe es nicht kleiner." und sie hörte sich selbst sagen, das sei "Kein Problem."
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Und ein freies Lächeln zierte ihr Gesicht. Es war kein Problem.   Â
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