von Christian Knieps. Ein Gedankenstrom über zwei Kontrahenten im alles entscheidenden Moment: Sieg oder Niederlage?

Sie standen sich nun schon eine ganze Weile gegenüber, nahezu regungslos und den jeweils anderen beobachtend. Zwei Augenpaare trafen sich in den jeweils anderen und versuchten zu ergründen, wann der Gegner zucken würde – der erste, der diesen Nervenkrieg verlieren würde, könnte am Ende alles verlieren – nicht nur diesen einen Moment.
Breitbeinig steht der eine Kontrahent dem Gegner gegenüber, wartend auf das Duell, steif wie eine Statue, voller Kraft und Anmut, während der andere lieber in einem katzenhaften Stand wie zum Sprung bereitsteht, die Hände zur Seite und mit dem Finger spielend, als würden diese Übungen ihm helfen, im Ernstfall schneller zu reagieren und damit einen Vorteil im Duell zu haben. Im Augenwinkel beobachtet der Breitbeinige, ob es ein Zeichen zum Start gibt. Versucht anhand der Rhythmik der Finger zu erkennen, für welche Variante sich der Gegner entscheiden wird, und um die Last etwas von seinen Schultern zu nehmen, atmet er tief ein und aus. Sein Brustkorb hebt und senkt sich deutlich, und sein Gegenüber hat kurz das Gefühl – zumindest drückt er es mit einer leichten Unsicherheit aus –, dass es jetzt losgehen würde.
Doch da niemand eine Aktion startet, geht wieder alles zurück auf Los und beide starren sich wieder an; alles wird ausgeblendet, der Lärm, falls es einen Lärm gibt, der Wind, falls es einen Wind gibt, denn für keinen der beiden Kontrahenten sind diese Beeinflussungen wichtig. – Der Schuss wird von diesen Faktoren nicht abhängen, sondern vielmehr von der Standfestigkeit, der mentalen Stärke und der individuellen Reaktionsfähigkeit.
Der Breitbeinige hat plötzlich die Eingabe – er weiß nicht, woher er sie hat –, dass jetzt der richtige Zeitpunkt wäre, er löst seine Position mit einem Mal auf und tritt einen kleinen Schritt vor, den Torwart mit seinen spielenden Fingern und der katzenhaften Körperhaltung weiterhin fixierend, trippelnde Schritte, nur in Bewegung bleiben, drei, vier weitere Schritte – dann, urplötzlich scheint der Torwart das Spiel mit den Fingern einzustellen und lehnt seinen Körper minimal zu einer Seite – ein sicheres Zeichen für den Schützen, dass er sich für die andere Ecke entschieden hat – oder doch nicht, was wenn er den Schützen in eine Falle locken will, was wenn der Torwart die Gedanken seines Gegners viel besser lesen kann als der Schütze, und als der Schießende seine Entscheidung ändert, nicht nach rechts und auch nicht nach links, sondern direkt in die Mitte zu schießen, um der Entscheidung für richtig und falsch zu entgehen, verzögert er wie immer kurz im Lauf, ohne den Lauf zu stoppen, ändert minimal die Richtung der Innenseite seines Fußes und entlässt die Kraft aus seinen Muskeln über seinen Fuß in den Ball, der die Kraft aufnimmt und vom Elfmeterpunkt nahezu geradeaus fliegt, mit nur einer minimalen Kurve, viel weniger, als er sonst dem Ball im laufenden Spiel mitgibt.
Im Moment des Treffens des Balles hat der Schütze seine Augen kurz geschlossen, und als er sie öffnet, ist der Schaden auch bereits zu erkennen, denn entgegen seiner Vermutung, dass sich der Torwart für eine Ecke entschieden hat, sieht der Schütze fast wie in Zeitlupe, wie der Ball vom Torwart sogar gefangen wird – gefangen! Das ist mehr als die Höchststrafe, die kurz danach folgt, denn der Torwart lässt den Ball fallen, da er wenige Moment später von einer Mitspielertraube begraben wird – den Windhauch, den die Vorbeirennenden entfachten, spürt nun auch der Schütze wieder, ehe er die Fans der gegnerischen Mannschaft ekstatisch feiern hört – es sollte sein Moment sein, sein Sieg im Duell, doch es ist mehr, viel mehr – eine Schande.
Über Christian Knieps:
Christian Knieps, geb. 1980, lebt und arbeitet in Bonn, schreibt Romane, Theaterstücke, Novellen und Kurzgeschichte. Zuletzt: Tynn: Das Ewige Schicksal. Mehr Infos zu den Veröffentlichungen auf christianknieps.net.
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