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Leicht in den Jahresstart


ree

Foto: Lilly Gladenbeck


Leicht - Ursula Altenbach


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L 

 

fliegen über wolken die keine sind 

was ist denn schwerer das wasser oder der wind 

 

 

E 

 

der vogel im freien fall 

der fisch im schwarm im meeresblau 

 

 

I 

 

was ist leichter 1kg watte....1kg blei 

was sagt der kater im zweifelsfall 

 

 

C 

 

ein schmetterling so leicht  

einer pustelblume er gleicht 

 

 

H 

 

es könnte nicht schwieriger sein 

dabei ist leicht gerade das gegenteil 

 

 

T 

 

am leichtesten ist leicht vorzustellen 

wie die leichtigkeit alles zu leeren 

eine utopie zum mitnehmen, bitte - Malin von Lehenner


eine utopie zum mitnehmen, bitte. 

 

„herzlichen glückwunsch“ sagen sie. und ich bin voller vorfreude, dass es endlich losgeht. ich mache den ersten schritt. er ist noch etwas wackelig, die aufstellung des fußes noch etwas unsanft. aber ich frage mich nicht, ob das eine rolle spielt, denn warum sollte es? ich bin doch schließlich einen schritt vorangekommen. 

ich richte meinen blick nach vorn und sehe plötzlich all die anderen vor mir. manche von ihnen werden getragen. manche stützen sich auf eine hand, die sie hält. manche haben geldscheine unter den schuhen, mit denen sie immer weiter nach vorn rutschen. andere sitzen in von ihren eltern selbstgebauten gefährten - sie kommen voran, ohne etwas dafür tun zu müssen. manche tragen ihre privilegien als luftballon über sich, den sie selbst gar nicht sehen. jeder windhauch nimmt sie mehrere meter mit nach vorn und sie denken, dass der wind doch für alle gleich weht. 

ich stehe immer noch an derselben stelle. ich drehe mich um und sehe all die anderen hinter mir. manche haben noch keinen einzigen schritt gemacht. gewichte halten ihre füße zurück. andere haben schon ein dutzend schritte gemacht, doch die startlinie noch nicht einmal erreicht. manche rennen statt zu gehen und wurden schon disqualifiziert. aber bei denen, die fliegen und getragen werden, wird nicht so genau hingeschaut. manche werden an der startlinie kontrolliert und davon abgehalten ihren ersten schritt überhaupt zu gehen. manche haben längst keine kraft mehr, um noch einen schritt zu machen. manche haben nie verstanden, was zu tun ist und machen einen schritt in jede richtung. andere reden sich raus und ihnen wird geglaubt, sie werden von den spielleiter:innen bis vor die ziellinie gefahren. 

ich stehe immer noch an derselben stelle. ich habe vor lauter beobachten und vergleichen vergessen, selbst meinen nächsten schritt zu machen. und ich weiß nicht, was mir das sagen soll. 

sollte ich versuchen, die vor mir so gut es geht zu kopieren, um immer weiterzukommen? auch wenn ich wüsste, dass ich nie so sein würde wie sie und auch wenn sie bei jedem schritt, den ich mache, schon drei weitere gegangen sind? sollte ich mich nur auf mich konzentrieren, das ziel im blick behalten und in meinem eigenen tempo einen schritt vor den nächsten setzen, ohne mich je wieder umzudrehen? oder sollte ich warten, auf andere menschen zugehen, laut werden und versuchen zu helfen? wenn wir alle zusammengehen würden und uns dabei an der hand halten würden, wäre es dann nicht viel leichter? würden wir dann nicht alle gleichzeitig ins ziel kommen? 

es ist naiv zu glauben, dass sich alles ändert, nur wenn wir uns ändern. denn wir sind nicht das problem. es sind nicht wir, die sich ändern müssen,


sondern es ist das system, das uns umgibt, das sich ändern muss. die startlinie muss abgeschafft werden und die ziellinie auch.

die schiedsrichter:innen und spielmacher:innen müssen abgeschafft werden. das ganze spiel und das ganze system, das uns nach leistung bewertet, muss abgeschafft werden. 

und diese veränderung können wir nur gemeinsam erzielen. vielleicht sollten wir uns doch an der hand nehmen und gemeinsam gehen. aber nicht, um so schnell wie möglich die ziellinie zu erreichen. denn nicht wir sollten uns an das system anpassen, sondern das system sich an uns. lasst uns einander an die hand nehmen und das system stürzen und das spiel abschaffen. 

und wenn wir das schaffen und die erde dann nicht längst ein feuerball ist, vielleicht können wir dann alle ein bisschen freier atmen. vielleicht können wir dann alle ein bisschen leichter und unbeschwerter tanzen. 

 

leicht (machen) - Julia Blöcher


leicht (machen) 

 

es gibt einen kniff. für das meiste gibt es einen griff. um etwas leicht ausführen zu können, muss der handgriff, der zugriff, stimmen, sonst verkrampft man sich und es knittert die stirn. einen flaschenöffner in der tasche, eine menstruationstasse in der vagina, eine plastiktüte um die ausgelaufene shampooflasche. ich versuche, es mir leicht zu machen, will nicht, dass irgendwas wieder ausläuft, und frage mich doch, ob es nicht am leichtesten wäre, nicht mehr zu versuchen, mir alles so leicht wie möglich zu machen. 

leicht - Laura Schröder

leicht 

 

leichtigkeit besteht in zwischenräumen. in ritzen, fugen und spalten. wir müssen sie herauskratzen, bevor wir uns mit ihr einreiben können. das ist nicht immer leicht, manchmal ist es ziemlich schwer. wir nehmen sie in unsere nassen hände wie seife, rutschig und duftend verteilen wir sie auf unserer haut. die leichtigkeit schimmert auf uns wie eine dünne schicht schweiß. 


meine zwischenräume sind deine finger. wenn du mich kitzelst, werde ich zu in der atmosphäre schwebenden wassertröpfchen, zu einer wolke, und unser lachen blüht im blau gestreuten licht.

ganz simpel, die art wie unsere stimmbänder vibrieren vibrieren vibrieren, wie die luft aus unseren lungen strömt, wie wir nicht aufhören können. so scheint es jedenfalls. ich weiß nicht mal mehr, welche geräusche zu dir gehören und welche zu mir. sie bilden ein ganzes und unser glück klebt wie zuckerguss an der raufasertapete. ich bin schwer und leicht zugleich und das ist gut so, denn leichtigkeit darf niemals schwerelos sein. leicht und schwer. sie müssen miteinander existieren, kommunizieren, interagieren, ihre hyphen ineinander vergraben und voneinander profitieren.  

die sonne lässt das wachs an meinen flügeln über meine schultern fließen und ich lege meinen kopf in den nacken. wie schön der wind durch meine haare weht! wie er unter mir unerbittlich die wellen bewegt, sodass sie tosend an klippen zerspringen oder gemütlich den sand an land verschieben. wie leicht es ist, dich zu lieben lieben lieben und puderzucker zu streuen und ungerade linien zu malen und im slalom zu laufen und sommersprossen zu zählen.  


deine finger ruhen auf meinen wangen und zwirbeln meine haarsträhnen. sie streicheln und erkunden und tippen. sie sammeln wimpern auf meiner haut und ich darf pusten und wünschen und den wunsch nach wenigen minuten schon wieder vergessen. leichtigkeit besteht in zwischenräumen. 


Der See - Diane Gill

 

Diane Gill 

 

Der See 

 

 

Die Schneeschmelze des zurückliegenden Winters nimmt in Rinnsalen ihren Weg durch das Gebirge und gleitet als Wasserlauf hinab in den See. Auf der anderen Seite fließt das Wasser in einen schmalen Bach, den niemand sieht und unterirdisch seinen Weg in die umliegenden Wiesen und Felder findet. 

 

Die Wasseroberfläche des Sees hebt und senkt sich. Die Wellen tasten nach dem Ufer und ziehen sich zurück, als wendeten sie sich wieder sich selbst zu. Hellblau und heiter glänzt der See an dessen Rand. In seiner Tiefe wird er dunkler und mächtiger. 

 

Der See kennt seine Melodie aus Plätschern und Schwappen. Er weiß um seine Stärke, da Natur ihre Kraft kennen muss. 

 

Er ist immer schwerer, er ist immer stärker. 

 

Sie steht am Uferrand, reglos. Sie lauscht, ob er wie ein Verwandter den Schutz bietet, den sie benötigt. 

 

Der Blick auf das Wasser erleichtert sie. Die Gewissheit, dass er sich nicht entfernt, ist, als hielte er eine Verabredung ein. Sie kennt den See seit ihrer Kindheit, und seine Anwesenheit fühlt sich an wie eine Umarmung, die sonst keiner geben kann. Jemand mit ihrem Gewicht wird nicht in die Arme geschlossen. Für eine Liebkosung muss man sich empfindsam zeigen, Schwäche offenbaren. 

 

Wenige Vögel zwitschern, es ist früher Abend im Juni. Sie sieht, dass die Natur ruhig ist. Der See liegt still, als zeige er Achtung vor der Bewegung der anderen. Der Wind weht nur ganz sacht. Die Bäume ragen auf, als sprächen sie zu ihr, sie solle auch so aufrechtstehen. Das ist möglich, da der See so nah ist. 

 

Das Thema der Zeit, jetzt da sie siebzehn ist, heißt Leichtigkeit und auf der imaginären Wippe vor ihrem Auge sitzt immer jemand auf der anderen Seite, der leichter ist. 

 

Gewicht, denkt sie, die gerne Gewicht in Worte legt, ist so negativ besetzt. 

 

Warum bezieht Schwere sich auf sich selbst und ist nicht auch das fehlende Gewicht der anderen? 

 

Wenn sie sich im Wasser spiegelt, gefällt ihr das Bild nicht. Ihrem Körper sieht man an, dass sie mit ihren siebzehn Jahren bereits viel gesehen und erlebt hat. Sie ist nicht sehr sportlich, vom Schwimmen abgesehen. Sie könnte den See vom vorderen Ufer bis zur anderen Seite durchschwimmen, so sie es wollte. 

 

Abendtau tropft von den Gräsern in den Wiesen, die den See umgeben. Die Sonne ist ein Stück gewandert. Eine Weile steht sie schon am Ufer. 

 

Mit einer Hand, die sie durch das Wasser zieht, prüft sie, ob die Temperatur ausreicht. Der Entschluss fällt dann sehr schnell. 

 

Sie streift die Jeans ab, legt ihre Socken in die abgenutzten Schuhe, zieht das Oberteil über den Kopf und schreitet hinein, zielstrebig, forsch, unerschrocken gegenüber der Kälte, die ihr entgegenschlägt. Es schwappt um ihre Beine, kaltschnäuzig streckt sie die Arme nach vorne und stürzt sich mit dem ganzen Körper in den See, so dass es klatscht. 

 

Er nimmt sie entgegen. Kalt und zunächst unnahbar ist er und sie muss zuerst sich selbst vertrauen, bis der See mit Geborgenheit antwortet. 

 

Der See umschlingt ihren Körper und sie gleitet umsichtig hinein, bis er mit leichten Wellenbewegungen reagiert. Ihre Hände greifen in die Wasserwand, sie begibt sich mehr und mehr in die Tiefe des Gewässers. 

 

Sie ist leicht in dem Moment, da der See tief ist. 

 

Ihr Atem geht zunehmend ruhiger. Sie schwimmt vorwärts, die Beine kräftig, die Hände tasten nach den Schwingungen des Gewässers. Es gibt die, die der See in sich trägt und die, die sie selbst erzeugt. 

 

Es ist nicht schwer, die eigenen Bewegungen zu genießen. Sie gerät in unterschiedliche Strömungen. Warme Wellen streifen ihren Körper, der kurz darauf erschrickt, weil das Wasser an einer anderen Stelle wieder sehr kalt ist. 

 

Ihr Körper nimmt Spannung an. Schnell schwimmen ist ihr in Schwimmbädern wichtig, ebenso wie eine Anzahl an gezogenen Bahnen. Hier kann schwimmen auch innehalten darstellen. Den Körper umschmeicheln lassen, die Bewegungen um der Bewegungen willen durchführen. Sich auf den Rücken legen und Zeit Zeit sein lassen. 

 

Sie spürt die Kälte des Wassers und fasst das Ufer ins Auge. Sie beginnt wieder schnell zu schwimmen, das Ufer ist die Ziellinie, die sie laut und heftig atmend erreicht. 

 

Groß und stolz steigt sie aus dem Wasser. Eine Last perlt von ihr ab. 

 

Sie betritt das Ufer, und in dem Moment, als ihr Fuß auf festen Boden trifft, bemerkt sie die Leichtigkeit, die sie umgibt. Leicht und scheinbar schwebend läuft sie zurück zu ihren Kleidern. 

 

"Der See war schwerer.", denkt sie frohgestimmt. 




 
 
 

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