von Diane Gill. Diese sehr aufmerksame Schilderung zeigt und erinnert daran, wie befreiend die Wiederentdeckung auch winzig kleiner Möglichkeitsfenster sein kann.
Ihre Abende füllt das Fernsehen - in der kleinen Wohnung, die sie sich
gerade eben leisten kann. Am liebsten sieht sie die Serien, in denen
die Schauspieler sich so gleichen. Die Welt des Fernsehens bleibt dabei
eine fremde. Sie trifft ihre Augen, nicht jedoch sie als Person.
Der Sonntag ist anders. Da öffnet sich ihr Gefühl. Sonntags hört sie in
ihrer Küche Radio. Sie dreht an dem kleinen Rad, um den Sender genau
einzustellen, widmet sich der Musik. Vornehmlich die traurigen Lieder
erreichen sie. Die Worte, die sie vernimmt, haben mit ihr zu tun. Es
ist, als spräche jemand zu ihr, erzählte ihr in verschiedenen Tonlagen
aus anderen möglichen Leben.
Die Wohnung liegt am dicht besiedelten Stadtrand. Ihre Kinder sind
sechs und acht Jahre alt, es sind ein Mädchen und ein Junge. Es muss zu
der Zeit gewesen sein, als der Vater der Kinder sie allein ließ, dass
sie den Fernseher kaufte. Das Radio dagegen stammt noch aus der Zeit,
als Worte noch nicht aus dem Radio kamen, als er noch zugegen war.
Solche Worte vernimmt sie nun am Sonntagabend, es sind Stimmen im Wind.
Der Vater der Kinder, so weiß sie heute, war mit dem Alltäglichen
überfordert gewesen. Kinder füllen eine sonst so stumme und leere
Wohnung, bringen Ereignisse, Taten, Vorsätze hervor. Daran war er
gescheitert. Seine Rolle übernahm sie folglich mit.
Erst wenn die Kinder schlafen, geht sie am Sonntag leise in die Küche,
die für ein gemeinsames Frühstück mit den Kindern zu klein ist. Hier
kann sie sich von allem entfernen. Von diesem Platz blickt sie durch
eine Durchreiche in das Wohnzimmer, wo das Sofa steht und sie an den
anderen Tagen sitzt. Der Wohnraum ist nun leer, und die Küche erfüllt,
so fühlt es sich zumindest an.
Als der Mann sie verließ, war es erst laut und dann ganz still. Sie ist
heute 27 Jahre alt, jung für die beiden Kinder, welche noch recht
unproblematisch sind. Wenn sie wollte, könnte sie eine Bindung
eingehen. Aber das Radio spielt für sie allein.
So ein Sonntagabend geht schnell vorüber. Es ist zehn Uhr abends.
Morgen beginnt die neue Woche. Die Kinder benötigen Winterschuhe. Sie
muss an den Regenschirm denken, wenn sie zur Arbeit geht. Sie hört noch
die Zehn-Uhr-Nachrichten und den Wetterbericht, dann löscht sie die
Lichter, geht ins Bett.
Der Montag ist verregnet. Als die Kinder im Bett sind, schaltet sie den
Fernseher ein. „Die Bilder rennen vorbei wie die Monate“, denkt sie.
Die Kinder waren heute aufgedreht, wie immer nach den Wochenenden. Sie
ist müde. Das Mädchen wünscht sich etwas zu Teures zum Geburtstag. Sie
will es kaufen für das Kind.
Sie wird noch mehr verlieren, wenn die Kinder größer sind. Wenn
Vergleiche aufgestellt werden. „Meine Mutter arbeitet.“ – „Ja und?
Meine auch. Sie gibt jetzt auch noch Yogaunterricht. Und mein Vater hat
eine neue Kanzlei.“
Am Dienstag denkt sie darüber nach, ob sie das Geld ausgeben soll, für
den Geburtstag der Kleinen. Sie schaltet den Fernseher ein. Als sie
gerade über die Schauspieler nachdenken will, gibt es gar keine
Schauspieler. Der Fernseher funktioniert nicht. Es muss am Gerät
liegen. Ein Techniker muss kommen.
Sie ist irritiert. Keine laufenden Bilder. Keine musikalische
Untermalung. Kein Happyend. Sie hätte nie gedacht, dass sie das
braucht. Dass so ein Fernsehgerät ein wichtiges Instrument in ihrem
Leben ist.
Eine Weile vergeht. Sie hört nur ihren Atem. Auch das Licht des
Fernsehers fehlt.
Im Raum hängen die Träume ihrer Kinder. In diesem Wohnzimmer umgeben
sie plötzlich die nicht erzählten Geschichten, die sie vor so langer
Zeit heruntergeschluckt hat. Sie sind zugegen und nicht die
Geschichten, welche die Schauspieler überbringen.
Es ist still.
Durch die Durchreiche fällt ihr Blick auf das Küchenlicht. Dort, wo das Radio steht, das ihr sonntags erzählt, dass sie nicht allein ist.
Sie kann nichts hören und räuspert sich. Ihre eigene Stimme hört sich
blechern an. „Ich muss morgen den Techniker anrufen. Und das
Geburtstaggeschenk kaufen. Noch mehr zu tun, als eh zu tun ist.“
Sie ist nicht ganz traurig, was sie als verwunderlich empfindet. Die
Stille ist tonangebend. Sie steht auf und geht vorsichtig in die kleine
Küche. Es ist halb zehn. Trotzdem schaltet sie das Radio ein:
„Sturmwarnung. Und nun: Musik.“
Sie lacht. Sie steht an der Seite des Radios, steht in der Küche und
lacht. Den Sprecher des heutigen Abends kennt sie nicht. Sie stellt
sich die Zuhörer an so einem Dienstag vor. Hat Tränen in den Augen vor
Lachen. Über sich selbst.
Sie muss nur dienstags das Radio einschalten.
Es sind Tränen. Dann nicht mehr. Sie braucht keine Tränen mehr. Eine
Wahrheit, eine ganz plötzlich ergriffene Wahrheit, die über Jahre
gewachsen sein muss.
Sie setzt sich. Das Radio ist an. Sie blickt durch die Durchreiche
zurück in das Wohnzimmer, das nun erleuchtet ist von der Stehlampe und
dem kleinen Licht neben dem Sofa. Dort säße sie jetzt. Unwillkürlich
zuckt sie zusammen. Es ist etwas passiert.
Die Autorin:
Als ausgebildete Buchhändlerin liest Diane Gill sehr viel und hat vor etwa 20 Jahren damit begonnen, selbst Erzählungen zu schreiben.
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