von Diane Gill. Die einfühlsame Korrespondenz zeigt, wie Worte trotz der räumlichen Distanz Trost spenden und ein Gefühl von Zugehörigkeit und Ordnung in einer sich ständig verändernden Welt vermitteln können.
Eine Weile schon lag der Brief auf ihrem Nachtkästchen. Sie nahm ihn in
beide Hände, ihr Blick fiel von oben auf ihre Adresse. Die Schrift
verriet ihr, dass es ihm gut ging. Es war dieselbe blaue Tinte, die
auch die anderen Briefe zu ihr geleitet hatten. Ihre Anschrift hatte er
fein, aber gerade und klar auf das Kuvert gesetzt. Seine Sorgfalt
berührte sie.
Das leichte Gewicht in ihrer Hand ließ sie den Inhalt erahnen. Es war
ein Brief, der nur aus zwei Blatt Papier bestehen konnte.
Meistens schickte er mehrere Seiten. Die Briefe machten es körperlich.
Sie legten den Weg ins Wohnstift zurück, den sie nicht mehr bewältigen
konnte.
Es schien, als ob sich ihr Atem dem Gegenstand in ihrer Hand angepasst
hatte.
Jim hatte geschrieben. Sie betrachtete eine Weile den Umschlag mit der
fremden Briefmarke. Ein Brief aus Amerika lag in ihrer Hand.
So ein Brief kam häufig an, auch im Seniorenstift wusste man um sie und
ihre Post von Jim. Sie hatte ihm bei ihrem letzten Telefonat erzählt,
dass sie mit der Welt nicht mehr umgehen könne. Er hatte gelacht. Kaum
eine Deutsche im Alter von 93 Jahren hätte ihm in fließendem Englisch
mit Akzent zu verstehen gegeben, dass sie mit der Welt nicht mehr
umgehen könne.
Vorsichtig öffnete sie den Umschlag und wunderte sich. Der Brief
enthielt tatsächlich nur eine beschriebene Seite und ein weiteres
Blatt. Jetzt musste sie doch die Brille aufsetzen. Er hatte einen
Zeitungsausschnitt beigefügt.
Was schrieb Jim?
Es waren einfach gewählte, klare Worte, die wohl nur sagen wollten, jemand der nicht mehr mit der Welt umgehen könne, solle sich Bilder aus der Natur ansehen.
Der Zeitungsausschnitt zeigte oben einen Affen, der in einem Gehege
fröhlich an für die Tiere gespannten Seilen turnte.
Weiter unten zierte ein Panther die zweite Aufnahme. Seine Muskeln
warteten gespannt auf irgendein nahes Ereignis. Selbst auf dieser
lediglich einen Moment einfangenden Aufnahme bewunderte sie die Kraft
und Eleganz des Tieres.
Sie besah sich die Bilder. Sie riefen ein schon lange Zeit nicht mehr
empfundenes Gefühl hervor. Sie vermittelten Trost. Die Anwesenheit der
Tiere auf den Bildern konnte Zugehörigkeit in diese veränderte Welt
geben. Das große Ganze erhielt durch die Tiere etwas Erhabenes. Die
Zusammengehörigkeit in diesem Kosmos stand in einer Ordnung.
Jim hatte erreicht, was sie nicht mehr für möglich gehalten hatte. Sie
war ein Teil der Ordnung. Sie atmete laut aus. Eine Träne huschte
schnell über die Wange. Die Welt erhielt von ihr wieder ein Lächeln.
Jahre waren vergangen, seit sie Jim zuletzt gesehen hatte. Vielleicht
wäre er lediglich ein seltener Gedanke, hätte er nicht ab irgendwann
den Entschluss gefasst, ihr Briefe zu schreiben.
Sie antwortete ihm nicht aus Pflichtgefühl oder aus Mangel an anderen
Kontakten. Seine Briefe schrieb er, als säße er mit ihr auf dem Balkon
des alten oberbayerischen Hauses. Er stellte zufällige Fragen, welche
sehr gewählt waren, wenn man sie genauer betrachtete.
Ihr Briefwechsel war ein sich lange hinziehendes durch Unterbrechungen bestücktes Gespräch.
Jim wollte wissen, wer diese Frau gewesen war, welche allen Kindern der
amerikanischen Siedlung über Jahre unzählige Briefmarken aus aller
Herren Länder schenkte und wie jemand so wissbegierige Fragen mitten in
einem gerade erstickenden Lachen stellen konnte.
Sie hatte den Schritt getan, den sie gar nicht tun wollte. Ein großes
Gewitter fegte über die Siedlung. Wütendes Donnergrollen erinnerte sie
an die Luftangriffe auf Dresden. Sie wusste von sich, dass sie alle
Gefühle aushalten konnte, aber nicht diese Erinnerungen. Sie war in
Dresden ein junges Mädchen gewesen, selbst Jim hatte zu dieser Zeit und
ihrem damaligen Leben keinen Zugang.
Nicht die Ereignisse, nicht der Lärm bildete diese Hölle ab, sondern
die Stille, als die Ausgebombten die Köpfe wieder hoben und
feststellten, dass man ihnen nicht das Leben genommen hatte, sondern
dass sie weiter hungern, herumirren und die Ihrigen und etwas Essbares
suchen würden.
Sie vernahm an diesem Abend das Donnern und läutete heftig atmend bei
Jim, der bis dato Nachbar gewesen war. An dem langen bei ihm
verbrachten Abend erfuhr sie, dass sein Name eigentlich James und nur
die englische Form des alten jüdischen Namen Jakob war. Viel mehr
mussten sie sich nicht erzählen.
Sie waren Vertraute. Ihr Kontakt aber entwickelte nicht die Intensität
einer gelebten Bindung. Nach der Nacht des Donnergrollens war sie
wieder nach Hause gegangen. Amerikaner sind spontan. Sie sind
hilfsbereit und sie beide waren von diesem alten Eisen. So erklärte sie
sich ihr Verhalten, auch wenn sie wusste, dass sie sich selbst belog.
Jim war Nachbar, vielleicht eine Art Freund. Wenn Amerikaner überhaupt
Freundschaft schlossen, dachte sie.
Sie ging weg aus Amerika. Sie wollte ihren Ruhestand in Europa
verbringen. Sie hatte sich ein anderes Leben in den Kopf gesetzt.
Oberbayern war nicht zu vergleichen mit Dresden und das Liebliche der
bayerischen Landschaft gefiel ihr.
Der Briefkontakt zu Jim hielt all diesen Veränderungen stand.
Als sie in das Wohnstift umzog, dachte sie zunächst, die Kontakte auf
das Gewichtige zu reduzieren. Sie erhielt Besuch und telefonierte.
Jahrelange Übung in Kalligraphie half ihr, dass es ihrer Hand immer
noch gelang, Briefe zu schreiben.
Ihre Besucher erzählten ihr von Menschen und Ereignissen. Die Menschen
konnte sie noch gedanklich fassen, die Ereignisse zunehmend weniger.
Jim hatte genau an diesem Punkt Bilder anstelle von vielen Worten
geschickt. Doch auf diesem einen, den Tierbildern beigefügten Blatt,
schrieb er:
"Ein so neugieriger Mensch, der sich nicht mehr in der Lage fühlt, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben, ist im Grunde vor allem traurig."
Und Jim schrieb weiter: "Sich in das Gefüge des großen Ganzen nicht
mehr hineinzufinden, macht vielleicht auch Angst."
Sie hielt den Brief in ihrer Hand, packte ihn unversehens und drehte
ihn blitzschnell um. Die Handschrift, die den Absender gemalt hatte,
zeigte viele Zacken und Haken. Die Schrift sah zittrig aus und hielt
nicht die Linie.
Er hatte ihre Adresse gemalt und seine gerade so eben schreiben können.
Sie schluckte und dachte, er hatte diesen Brief schreiben können und
sie ihn erhalten.
Die Autorin: Diane Gill (@gilldiane76)
Zu mir kann man sagen, dass ich als Buchhändlerin meine Liebe zur Literatur leben kann und dass ich seit etwa 20 Jahren Erzählungen und Gedichte schreibe, 47 Jahre alt bin, mich aber jünger fühle.
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