Ein Interview mit Kevin Riemer-Schadendorf von Leonie Winter
In unserer Interview-Reihe sprechen wir mit Leuten aus den Branchen, in denen unsere Künstler:innen schon sind oder wo sie noch hin wollen.
Als Kick-Off der Reihe sprechen wir mit Kevin Riemer-Schadendorf, Buchautor beim Treibgut Verlag. Leonie stellt ihm Fragen übers Schreiben, Autor werden und darüber, wie es ist, über den Zweiten Weltkrieg und die eigene Familiengeschichte zu schreiben.
Lieber Kevin, wir freuen uns, dass du dir die Zeit genommen hast, mit uns zu sprechen!
Akademisches Schreiben und Belletristik
„Du hast deinen Magister in Kulturwissenschaften gemacht und im Nachhaltigkeitsmanagement promoviert, jedoch keine klassischen Literaturwissenschaften studiert. Inwiefern hatte dein akademischer Werdegang auf dein kreatives Schaffen Einfluss?”
„Zweifelsohne fließen im Allgemeinen sämtliche Lebenserfahrungen in den Schreibprozess mit ein und beeinflussen unweigerlich den schriftstellerischen Duktus. Speziell die Wissenschaft verlangt von der Verfasser:in, ein objektives, wahrheitsgetreues und faktenbasiertes Schreiben, mit dem Ziel im Sinne der Forschung neues Wissen zu generieren. Dieses Prinzip setzt gleichwohl auch Grenzen, was, auch wenn es befremdlich klingen mag, das Schreiben erleichtert. Die Belletristik gestattet eine:r Schriftsteller:in hingegen ein subjektives Fabulieren – die Fantasie ist eben grenzenlos. Ich glaube jede:r Autor:in saß schon einmal vor einem leeren Blatt und wollte mit dem Schreiben beginnen, doch wusste nicht, wo anzufangen. Wenn nahezu alles erlaubt ist, ist die größte Schwierigkeit einen konsistenten Stil und Plot zu entwickeln.“
Warum Autor:in werden?
Die Belletristik ist nachsichtiger, ihre Regeln lockerer, als die der Wissenschaft – aber mit Freiheit kommt auch einiges an Verantwortung und Entscheidungen, wie Sartre sagte.
„Du hast auch wissenschaftlich publiziert. Wann hast du dich dazu entschieden, einen belletristischen Weg zu gehen und Autor werden zu wollen – und was willst du damit erreichen? Gab es einen konkreten Zeitpunkt, an dem du dir dachtest: Jetzt möchte ich nicht nur wissenschaftlich schreiben, sondern auch mal etwas Neues ausprobieren? Oder war es gar ein Einfall aus Kindertagen?“
„Das war ein fließender Prozess. Ich kann nicht von mir behaupten, dass ich seit Kindheitstagen danach trachtete, ein Autor werden zu wollen. Je nach dem jeweiligen Lebensabschnitt wurde von mir ein unterschiedlicher Schreibstil erwartet. Wissenschaftliches oder werbliches sowie sozialmediales oder journalistisches Schreiben. Aufsatz, Werbetext, Blogartikel und Pressemitteilung verlangen eben einen eigenen Stil, da sie individuelle Ansprüche und Ziele verfolgen. Das Schreiben von Blogs gab mir hierbei die größte Freiheit, obgleich es in meinem Fall galt, sie unter dem Sujet der ökosozialen Nachhaltigkeit zu subsumieren. Ein Buch zu schreiben, gewährt einer Autor:in die größtmögliche schriftstellerische Freiheit, da der eigenen Fantasie keine Grenzen gesetzt sind. Zumindest sofern diese Fantasie nicht von Verlagsvorgaben und/oder Lektor:innen in ein wirtschaftliches Korsett gezwängt wird. Finanzielle Anreize waren und sind für mich jedoch keine Motivation, um zu Papier und Feder zu greifen, da ich, auch wenn es unromantisch klingen mag, mittelfristig nicht davon ausgehe, ausschließlich von meiner Schriftstellerei leben zu können. Jean Paul schrieb einst, dass eine Autor:in „ohne Brotgier, ohne Rücksicht auf den Leser, bloß in den Gegenstand versenkt“ schreiben solle. L’art pour l’art, wenn man so will. Ich denke, diese intrinsische Motivation spiegelt meine Ansprüche an die eigene Schriftstellerei recht gut wider.“
Tipps für junge Autor:innen
„L’art pour l’art pragmatisch aufzugreifen ist eine neue Herangehensweise, die aber der Realität der meisten Kunstschaffenden heute näher ist, als der Traum von Ruhm und Erfolg. Hast du Ratschläge für junge Autor:innen? Was machst du z.B. mit Schreibblockaden, wie bist du die Suche nach einem Verlag angegangen, wie beginnst du ein neues Projekt?"
„Schreibblockaden sind altersübergreifend völlig normal und ich glaube, je nachdrücklicher man sie überwinden möchte, desto kontraproduktiver gestalten sich die eigenen Versuche. Um Schreibblockaden vorab zu vermeiden, ist für mich, neben Inspiration, das Setting elementar beim Schreiben: Ruhe. Zeit. Kontemplation. Freude.
Letztere sollte meines Erachtens auch der Ausgangspunkt für das eigenen Schreiben sein. Jemand, der ein Buch schreiben möchte, sollte sich daher im ersten Schritt fragen, für welches Thema er/sie sich begeistert und welche Erfahrungen diese:r auf diesem Gebiet besitzt. Neben Schreibratgebern ist auch jedwede Form von Kritik über das Geschriebene von literaturaffinen Freund:innen und Bekannten zielführend. Einen Verlag zu finden, ist indes eine wahre Herkulesaufgabe. Buchverlage konkurrieren mehr denn je mit digitalen Medien und stehen entsprechend unter einem enormen wirtschaftlichen Druck. Zudem werden sie regelrecht von (ungefragt) eingereichten Manuskripten überspült. Es ist daher gegebenenfalls sinnvoll, eher einen kleineren Verlag zu wählen, der sich auf dein gewähltes Genre spezialisiert hat. Dennoch ist das finanzielle Risiko für einen Verlag hoch, eine gänzlich unbekannte Schriftsteller:in zu publizieren, sodass eine Jungautor:in damit rechnen sollte, sich an den Druckkosten zu beteiligen.“
Im kreativen Bereich sind diese sogenannten Druckzuschusskostenverlage oftmals verpönt, und gelten als Ausbeutung – auch wenn sie wohl einer unerfahrenen Jungautor:in bei der Vermarktung, dem Lektorat etc. gegebenenfalls helfen können. Im akademischen Feld ist es eine Notwendigkeit, um seine Doktorarbeit o.ä. zu veröffentlichen.
VIELEN DANK FÜR DIE WERTVOLLEN TIPPS!
Leiden für ein Feuerwerk – Biographisches Schreiben
Ein Leiden für ein Feuerwerk erschien im April 2021 im Treibgut Verlag und handelt von der Flucht einer Mutter mit ihren acht Kindern vor den Schrecken des Zweiten Weltkrieges im Deutschen Reich. Die Novelle ist biographisch inspiriert.
„Dann krochen wir hinaus in den pfeifenden Bombenhagel. Um uns herum peitschten die flammenden Wogen. Panisch schreiende Menschen stürzten kopfüber aus ihren brennenden Häusern.” (S.23)
Du schreibst über den Zweiten Weltkrieg, aus der Sicht des Mädchens S.; eine der Töchter einer alleinerziehenden Mutter. Das Ganze ist beim Lesen nicht leicht zu verkraften. Durch die Augen der jungen S. wirken die Grauen des Krieges noch einmal schlimmer, da ich als Leserin von der ersten Seite mit der Protagonistin mitfühlte.
„Wie kamst du darauf, in deiner Novelle Leiden für ein Feuerwerk über die Erinnerungen deiner Großmutter zu schreiben?“
„Aus den Gesprächen mit meiner Großmutter. Sie ist eine unglaublich bescheidene und selbstlose Frau. Sie stammt aus der Kriegsgeneration und interpretiert Glück und Zufriedenheit mit gänzlich anderen Werten als unsere heutige Konsumgesellschaft.
Als ich einst mit ihr sprach, erzählte sie von ihren Kriegserlebnissen und welch großes Glück sie doch hatte, aus dem Osten fliehen zu können. Mit der gesamten Familie sei sie samt Speis und Trank im Zug in den Westen gereist. Dieser Satz lässt bei mir ein völlig anderes Bild vor meinem geistigen Auge entstehen, als es letztlich war. Auf mehrfacher Nachfrage kam heraus, dass sie halb verhungert und zitternd vor Kälte auf einem Güterzug gerade eben den russischen Katjuscha-Raketen entkommen waren. Neben streng rationiertem Zuckerwasser gab es für ihre Mutter und sechs Schwestern nur eine Handvoll erdverkrusteter Steckrüben zu essen, die sie zuvor von einem schneebedeckten Feld geklaut hatte. Je mehr ich nachfragte, desto mehr derlei Art Geschichten kamen zum Vorschein, die es allemal Wert waren, für die Nachwelt festgehalten zu werden.“
„Es ist als Enkel:in oft schwer, der alten Generation zuzuhören. Leider entscheiden sich auch Autor:innen oft erst zu spät, sich mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen und können dann nicht mehr nachfragen. Wie kamst du zu dem Titel deiner Novelle?“
„Leiden für ein Feuerwerk. Die Flucht der S. Rebesky ist mehr oder minder eine Kurzzusammenfassung des Inhalts. Die Hauptfigur (S. Rebesky) leidet auf der Flucht vor den Schrecken des Zweiten Weltkrieges und wird erst nach dem Kriege bei einem Feuerwerk von ihren Leiden erlöst. Wie sich dieses Leiden aufbaut und wie sie letztlich vom selbigen befreit wird, erfährt die Leser:in natürlich nur, wenn sie das gesamte Buch gelesen hat.“
„Wie war es, mit deiner Oma über ihr Leiden zu sprechen, wie lief der Arbeitsprozess ab? Hast du dich pedantisch an die Erinnerungen gehalten, die sie dir erzählte oder du hast du frei ergänzt? Hatte sie noch die Möglichkeit, dein Buch lesen zu können?
„Mein Vater hatte bereits vor gut fünfzehn Jahren die Fluchtstationen meiner Großmutter chronologisch festgehalten. Auf Basis dieser Fakten habe ich meine Oma mehrfach interviewt – oder besser gesagt ausgefragt. Für mich war es ziemlich spannend; für meine Oma hingegen teilweise belastend, da sie sich verständlicherweise nur ungern an diese Zeit erinnern möchte. Manchmal hat sie mir äußerst persönliche Erinnerungen anvertraut, die sie aber keinesfalls veröffentlicht haben wollte. Literarisch bedauerlich, menschlich jedoch nur allzu verständlich. Diese Erinnerungen deutete ich entsprechend nur oberflächlich an oder ließ sie gänzlich weg.
Wenn sich meine Oma nicht mehr genau erinnern konnte, bat ich sie mir entsprechend literarischen Freiraum zu gewähren, ohne ihre Lebensgeschichte zu verfälschen. Zum Test, ob unser Arrangement funktionierte, las ich ihr die ersten zwei Kapitel des Manuskriptes vor. An einer Stelle dichtete ich dazu, dass sie sich den Kopf an einer Eisenstange eines LKWs stieß, um ihre Verletzbarkeit und die enge Bindung zu ihrer Mutter zu verdeutlichen, die sie daraufhin tröstete. Als ich ihr diese Stelle vorlas, nickte sie zustimmend, gestand aber gleichwohl ein, sich gar nicht mehr daran erinnern zu können, um im nächsten Augenblick zu bekräftigen: „Aber ja, genau so war meine Mutter.“ Es war das schönste Kompliment, das sie mir als Autor hätte machen können.
Das letzte Kapitel des Buches springt in unsere heutige Zeit; kurz vor dem neunzigsten Geburtstag meiner Großmutter. Zeitgemäßer hätte es kaum enden können, denn ich überreichte ihr das gedruckte Buch zu ihrem neunzigsten Geburtstag! Selbstverständlich hat sie es auch schon gelesen und verteilt es noch immer fleißig an ihre Freund:innen. Ihr gefällt es ausgesprochen gut. Ehrlich gesagt, war mir ihre Meinung die allerwichtigste – jedwede negative Kritik hätte ich vertragen können, doch nicht die ihre.“
„Was für ein schönes Geschenk! Dass dir ihre Kritik wichtig war, ist durchaus verständlich, so persönlich wie das Buch ist, denn schließlich ist es stark biographisch geprägt. Würdest du sagen, dass sich der Schreibprozess bei diesem (biographischen) Werk schwieriger gestaltet hat als bei einem rein fiktiven Roman?“
„Fiktive und biographische Werke können sich beide auf ihre Art und Weise als schwierig erweisen. Eine fiktive Erzählung erlaubt der Autor:in grenzenloses fabulieren, sodass es schwierig ist, ein glaubwürdige Handlung zu generieren, da erzählerisch alles erlaubt und möglich ist. Biographisches Schreiben hilft zwar, authentische Charaktere zu entwickeln, indem diese Charaktere schlichtweg die real existierenden Menschen spiegeln. Zeitgleich schränkt einen dieses Genre auch ein, zumindest sofern die Autor:in den Anspruch hat, wahrheitsgetreu zu schreiben.“
„Neben den Einschränkungen bedeutet biographisches Schreiben bei dir auf jeden Fall auch authentisches Schreiben. Was hat dich besonders an der Thematik des Zweiten Weltkriegs interessiert? Vor allem in Verbindung mit deiner Familiengeschichte und dem biographischen Schreiben per se?“
„Der Zweite Weltkrieg ist jetzt über 75 Jahre her. Es ist somit die letzte Chance für Autor:innen, die Erlebnisse und Erinnerungen von Zeitzeug:innen durch wahrheitsgetreue Erzählungen für zukünftige Generationen festzuhalten. Auch wenn es nicht die eigene Familienchronik betrifft, sollte dieser Umstand allein Motivation genug sein.“
„Zeitzeugen sind unglaublich wertvoll und werden gerade was den Zweiten Weltkrieg angeht immer weniger. S. Rebesky ist deine Großmutter in dem Roman - gab es einen bestimmten Grund, warum S. keinen vollen Namen erhielt?“
„Die Namenswahl erfolgte aus analogen Motiven wie bei Kafkas Der Prozess, in dem Josef K. bewusst keinen Nachnamen trägt. Bei meiner Novelle hat die S. Rebesky eben keinen Vornamen. Das Prinzip ist jedoch das gleiche. Sie steht als anonymisierte Heldin nicht für sich alleine, sondern stellvertretend für eine ganze Generation junger deutscher Frauen, die vergleichbare Erlebnisse erleiden mussten und ähnliche Träume verfolgten.“
„Ein guter Ansatz für dieses Thema, das nicht nur eine Familie betrifft, sondern eine ganze Generation und uns immer noch prägt. Du beschreibst das Familienleben während des Krieges – mal ausführlicher, mal fragmentierter. Szenen wie das Ausharren im Bunker, die Flucht vor Bomben und Tod, aber auch den Alltag in einer neuen Familie (z.B. als sie auf den Hof der Budaus ankommen, S. 45ff). Hast du dich dabei noch auf weitere Zeitzeug:innenaussagen gestützt - oder eher allgemeiner aus Sachbüchern etc. die notwendigen Informationen gesammelt?“
„Das Beispiel der Familie Budau ist passend gewählt. Zu Beginn der Novelle steht ein Montaigne-Zitat, das übersetzt bedeutet, dass wohl nichts intensiver in der Erinnerung festhält, als der Wunsch es zu vergessen. An die Familie Budau konnte sich meine Großmutter nur allzu gut erinnern. Sie waren keine Mitläufer:innen, sondern überzeugte Nazis der ersten Stunde. Herr Budau war in der SA, Frau Budau in der NS-Frauenschaft, die Tochter war BDM-Führerin und der Sohn bei der SS. Meine Oma sah sogar noch die Kleidung der Herlinde Budau vor ihrem geistigen Auge: „Feldgrauer Rock. Kastenförmige Kostümjacke. Schwarze Krawatte. Dreieckige Anstecknadel auf schwarzweißem Kreuz mit goldener Gravur ‚Nat. Soz. Frauenschaft‘.“
Doch diese Erinnerungen müssen natürlich mit viel Recherchearbeit im Netz und Bibliotheken flankiert werden. Um es an dem Beispiel der Budaus zu verdeutlichen: Die Budaus stammten aus Bessarabien. Wie sah ein Hof eines Bessarabiers in den Vierziger Jahren in Pommern aus? Und was ist ein Bessarabier eigentlich? Betreibt dieser vornehmlich Viehzucht oder Ackerbau? Und wenn Ackerbau, welche Feldfrüchte wurden in welcher Form und von wem angebaut? Wie waren die klimatischen Verhältnisse? Wie stand es um die Lebensmittelversorgung? Etwaige Truppenbewegungen? Wie hießen die deutschen Ortsnamen im heutigen Polen? Sprachgebrauch, Mobilität, Architektur, Kleidung und technischer Stand? Und unzählige weitere Aspekte, die es zu beachten galt, um die malerischen Erinnerungen meiner Oma, den historisch notwendigen Rahmen zu verleihen.“
„Vielen Dank für diese ausführliche Antwort – Recherchearbeit sind wir aus der akademischen Welt ja leider auch sehr gewohnt! Eine Frage habe ich noch zu den malerischen Erinnerungen deiner Großmutter: Du beschreibst schließlich detailgetreu und bildhaft diverse Lebensstationen der S. (Die Trennung als Kind von der Familie, die Nächte im Luftschutzbunker und ihre Flucht etc.). Welche Stelle blieb bei dir besonders hängen?"
„Viele Situationen, die meine Oma in den Kriegszeiten erlebt hat, haben mich zum Nachdenken bewegt, indem sie meine eigenen Ansprüche und Werte hinterfragten. Um es im Stile Hermann Hesses zu formulieren, beeindruckt mich wohl am meisten ihre heutige Lebensstufe. Im letzten Kapitel blickt sie auf ihr Leben zurück, wobei sie den heutigen Rechtspopulismus in Deutschland kritisiert. Dies möchte ich hier allerdings nicht wiedergeben, denn um ihre Kritik vollumfänglich zu verstehen, muss man ihr Leben kennen – oder eben mein Buch gelesen haben.“
Vielen Dank für deine ausführlichen und tiefgehenden Antworten!
Riemer-Schadendorf, Kevin- 2021. Leiden für ein Feuerwerk. Die Flucht der S. Rebesky. Berlin: Treibgut Verlag.
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