Hier findest du Lesestoff für deinen November. In "Der Igel" fühlt sich Alina Kordick, Psychologiestudentin in München, in die Hoch- und Tiefs einer Beziehung ein. Im Rückblick auf unseren letzten Call "leicht (sein)", berührt die Geschichte zwischenmenschliche Momente, die so leicht sein können und fragt sich dann, wo diese so schnell hin verschwinden. Im Interview "Immer, wenn das Baby schläft" spricht Anna Job (Autorin und Teil des turtle magazin(e)s) mit Anna Kaltwasser, einer unserer Redakteurinnen. Anna Job spricht über Mutterschaft und Schreiben, wie sich beides gegenseitig inspiriert und wie es zusammen passt. Zuletzt gibt es noch Marleen Uebler's Kolumne "Erwachsen werden". Wir im Team sind fast alle Ende der 90er Jahre geboren, was bedeutet das für uns heute? Sind wir eigentlich erwachsen? Sollten wir es sein? Lies Marleens Gedanken zu dem Thema.
Der Igel - Alina Kordick
Wenn du gerade am Laptop, I-Pad oder Computer bist, lade dir die wunderschön gestaltete Version der Geschichte herunter:
Layout: Leonie Winter
Igel
Es ist noch nicht ganz dunkel, aber hell ist es auch nicht mehr und die Leitpfosten reflektieren das Licht der Scheinwerfer, die sich die Straße entlangtasten und im Gesträuch am Straßenrand verlieren. Als wir über die Grenze in die Niederlande gefahren sind, hat es angefangen zu nieseln. Mit dem Zeigefinger fährt Lana Regentropfen auf der Fensterscheibe nach, die Linien über das Glas ziehen, als würden sie uns den Weg zeigen, aber der Fahrtwind reißt sie mit und zersplittert sie in kleine Blasen. Lana pustet gegen die Scheibe und tut so, als wäre sie es und nicht der Wind, der die dunklen Wolken in der Ferne näher schiebt.
Kurz darauf merke ich, wie Lana unruhig wird. Sie wippt vor und zurück, dann lehnt sie sich vor, öffnet das Handschuhfach und kramt darin herum, aber ich frage nicht, was sie sucht. Ich frage mich, wieso es Handschuhfach heißt, und dass ich eigentlich welche für Lana hineinlegen sollte, weil Lana immer kalte Hände hat, auch wenn sie sich weigert, es zuzugeben, und mir erst erlaubt, sie zu wärmen, wenn ihre Finger ganz rot sind von der Kälte. Lana nimmt Hilfe nicht gerne an.
Sie fragt, ob ich einen Kaugummi möchte, wartet meine Antwort nicht ab, sondern hält mir einen hin, mit Wassermelonengeschmack, obwohl nicht Sommer ist, und ich warte darauf, dass sie fragt, wann sind wir endlich da.
Sie dreht am Radio, macht es lauter und dann aus und sagt, dass sie etwas spielen will, Wer bin ich oder so, als etwas Kleines über die Straße huscht, von rechts vom Straßenrand, aber ich bemerke es zu spät, um rechtzeitig zu bremsen. Lana hat es auch gesehen, sie schreit Stopp, aber ich bin nicht schnell genug und schubse ihre Hand weg, als sie versucht, mir ins Lenkrad zu greifen. Stopp, ruft Lana noch einmal, diesmal klar über das Quietschen der Bremsen hinweg. Erst als wir am Straßenrand zum Stehen kommen, fangen meine Hände an zu zittern.
Wir übernachten bei Freunden von Lana. Sie haben mit dem Essen auf uns gewartet, es gibt Pizza und Rotwein und Lana legt ihre Randstücke auf meinen Teller. Sie sprechen Niederländisch miteinander und am Anfang verstehe ich ein paar Worte, aber nach dem dritten Glas Rotwein kann ich ihnen nicht mehr folgen. Ich suche nach Lanas Blick, aber ihre Augen leuchten und sie bemerkt es nicht, auch nicht, als ich sie leicht mit dem Fuß unter dem Tisch anstupse. Ich bin auch da, möchte ich sagen, aber ich bedanke mich nur für das Essen, bevor wir in unser Zimmer gehen.
Am nächsten Tag nehmen wir die Fähre. Wir stehen oben an Deck und Lana macht Fotos von den Möwen, die gegen den Wind anfliegen und uns über das Meer zur Insel begleiten. Guck mal, sagt sie und lacht, als eine der Möwen abdriftet, bevor sie sich fängt und mit dem nächsten Windstoß wieder aufsteigt. Wir spielen Leute gucken, weil es Lanas Lieblingsspiel ist, weil sie sich gerne vorstellt, wie es ist, die Frau zu sein mit dem roten Lippenstift, deren Kleid im Wind flattert, oder der Mann, der seine Tochter auf dem Arm hält, damit sie über die Reling schauen und zusehen kann, wie die Wellen am Schiffsrand brechen, aber irgendwann springt Lana auf, Fähre erkunden, sagt sie, weil sie nie stillsitzen kann. Ich will nach ihrer Hand greifen, aber sie lacht nur, sie ist gleich wieder da. Ich setze mich auf eine Bank und suche den Weg heraus zu unserem Ferienhaus.
Wir sehen Schafe auf der Insel und flache weite Felder, durch die sich die Straße windet, der wir folgen. Als wir ankommen, geht Lana duschen, während ich unsere Taschen auspacke und die Spiele im Schrank verstaue, auf die Lana bestanden hat, auch wenn ich weiß, dass wir sie nicht spielen werden. Bist du fertig, fragt Lana, als sie sich trocken rubbelt, mitten im Zimmer, und eine kleine Pfütze auf dem Boden hinterlässt, die ich wegwische, während sie sich anzieht. Ich drücke Lana eine Mütze in die Hand, weil ihre Haare noch nass sind, und du dich sonst erkältest, sage ich, aber Lana winkt ab. Ich stecke die Mütze trotzdem ein. Durch die Hügel hinter dem Dorf gehen wir zum Strand.
Lanas Haare sind meerwindzerzaust. Der Wind ist so stark, dass er die Schaumkronen der Wellen mit sich reißt und sie über den Sand weht, als würde er kräftig pusten, um sie über den ganzen Strand zu verteilen. Wir versuchen, auf sie zu springen, fast so, wie man Seifenblasen fängt. Wellenschaumspringen, sagt Lana, aber ich springe zu spät ab, sodass meine Füße erst wieder auf dem Boden aufkommen, als die Wellenschaumblase sich schon aufgelöst hat. Selbst den Sand unter den Muscheln weht der Wind fort, sodass es aussieht, als würden sie auf Sandwellen surfen. Ich zeige Lana die Muscheln und Lana hebt eine auf, wischt die Sandkörner aus den Fugen und drückt sie mir in die Hand. Für dich, sagt sie. Die Muschel ist dunkel, fast schwarz, mit einem hellen Kranz am äußeren Rand. Lana breitet die Arme weit zu beiden Seiten aus und lehnt sich gegen den Wind, schau, ich kann fliegen, ruft sie, und dass ich das auch machen soll.
Wir lehnen uns beide gegen den Wind, der uns hält, und Lana lacht und ich frage mich, warum es nicht immer so leicht sein kann, dass wir uns nahe sind.
In der Nacht liege ich wach. Die Matratze ist so weich, dass ich tief einsinke und mich fühle, als würde ich in einer Kuhle liegen. Ich höre Lanas gleichmäßigem Atem zu, die neben mir liegt, in ihrer eigenen Kuhle, dabei möchte ich so neben ihr liegen, dass da nur eine Kuhle ist. Ich denke daran, dass ich näher an sie herangerutscht bin, kurz vor dem Einschlafen, aber Lana braucht Platz, das hat sie gesagt, und mich müde dabei angelächelt.
Ich denke an die Hinfahrt, daran, wie wir angehalten und das Stück zurückgelaufen sind, das ich zu weit gefahren bin. Wir standen da im Regen, es nieselte nicht mehr, sondern schüttete, weil die dunklen Wolken bei uns angekommen waren. Ich schaute Lana an und Lana sah mich an und dann schauten wir beide hinunter auf den Igel auf dem nassen Asphalt, der ganz platt war und alle vier Beine von sich gestreckt hatte, fast wie ein Flughörnchen sah er aus, als wäre er eben abgesprungen und würde jetzt fliegen, dabei bewegte er sich nicht mehr. Regentropfen liefen über Lanas Gesicht, aber es war zu dunkel, als dass ich ihren Blick hätte deuten können, nur das Auto blinkte rot am Straßenrand. Wir standen im Regen und mir war kalt und ich dachte daran, dass ich einen Regenschirm hätte mitnehmen sollen, als Lana aus dem Auto gesprungen und ich ihr gefolgt war. Und jetzt, fragte ich.
Ich denke an den Igel und daran, wie wir still im Regen standen und ich auf Lana gewartet habe, damit sie mir sagt, was wir tun. Lana wollte, dass ich eine Plastiktüte hole aus dem Auto, um den Igel darin einzuwickeln und zu begraben, aber ich meinte, dass schon genug Plastik ist in der Natur, also einigten wir uns darauf, ihn mit einem Stock an den Straßenrand zu schieben und mit Blättern zu bedecken. Fast wie eine Wasserbestattung, habe ich gesagt, wegen des Regens, als wir zurück zum Auto gelaufen sind, aber Lana hat nicht gelacht.
Interview: Immer, wenn das Baby schläft (Anna K. spricht mit Anna Job)
Kolumne: Erwachsen werden
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