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Von der Macht über das eigene Leben


„Ich konnte nicht fassen, dass all das etwas zu bedeuten hatte, dass es etwas bedeutet, wer wen ansieht, dass es etwas bedeutet, die Jacke anzubehalten, dass es etwas bedeutet, sich unbewusst mit dem Objekt zu identifizieren.“ Furre, Heidi: „Macht“, 2023

Liv, die Protagonistin, schreibt von und über Macht. Macht, die Eltern über Kinder haben. Lehrer über Schüler:innen. Macht über den eigenen Körper, Macht über andere Körper.

Vorab: Das Buch thematisiert sexuelle Gewalt, Traumata, Vergewaltigung. Es ist keine leichte Kost – wer damit Schwierigkeiten hat, sollte das Buch vielleicht nicht lesen.


Liv ist eine Frau, mitte 30, sie hat Kinder. Was ihr passiert ist, passiert Vielen, denn: Eine von zehn Frauen (in Norwegen laut Buch) wird vergewaltigt. So auch Liv – vor über zehn Jahren. Sie überlebt damit, aber sie lebt nicht wirklich. Situationen im ihrem Alltag bringen immer wieder die Erinnerungen zurück. So auch ein Vorfall in ihrer Arbeit : „ich bin gefangen in meinen Erinnerungen, er ist gefangen in der Abwesenheit seiner. “

Liv setzt sich selber dem Druck aus, das alles verarbeitet haben zu müssen, doch Wunden und Schmerz sitzen tief. Die Erinnerungen verfolgen sie, leben mit ihr, brechen in bestimmten Augenblicken immer wieder hervor und werfen sie zurück in jenen Raum., Kappen die Verbindung zu ihrem Körper, zu ihrer Identität. Die Protagonistin hat ihrem Mann nicht von ihrem „Vorfall“, wie sie es nennt, erzählt. Sie lebt damit, zunächst alleine. Sie versucht in ihrer Einsamkeit die Kontrolle und Macht über sich zurückzuerlangen..


Heidi Furres Roman ist eindrücklich, stark, wortgewaltig. Hier wird nicht die Vergewaltigung in den Fokus gesetzt, sondern wie Frau damit lebt, wie ein mögliches Leben danach aussehen kann. Die Ich-Perspektive macht die Geschichte eindrücklich und bringt Leser:innen in die Position der Frau. Es wird persönlich. Wir haben keine Möglichkeit in eine Distanz zu entfliehen, das ist wichtig. Wir distanzieren uns nur, wenn Liv sich selbst von sich abspaltet und ihren Körper mit Abstand beschreibt. Das Zusammenspiel von Erinnerung, Gefühlen und Körper vermittelt Heidi Furre sehr klar und wortgewandt: „Die Muskulatur von den Gefühlen zu trennen, ist eine Fantasie, die wahr werden kann. Eine Art Versuch, zu ändern, was in meiner Macht steht, um zu verhindern, dass das Böse an die Oberfläche gelangt. Der Verfall ist der Preis, den man zahlen muss, wenn man einen Körper hat.“


Die einfach gehaltenen Sätze, verwoben mit deutlichen Metaphern prägen sich ein und ermöglichen ein flüssiges Lesen. Sie sprechen von Trauma, von Wut, von Erinnerungen. Doch Empathie darf bei einem so sensiblen Thema selbstverständlich nicht fehlen. Es muss erwähnt werden, dass nicht chronologisch erzählt wird, Erinnerungen, Eindrücke, Gedanken verweben sich mit der erzählten Gegenwart. Das Buch ist sicherlich keine einfache Kost, aber es birgt auch Hoffnung, Kraft und Trost.

Da ich nicht Norwegisch kann, musste ich auf die Übersetzung zurückgreifen, was aber dem Lesefluss keinen Abbruch tat.


Der Text kreist zunächst um ihre Verhaltensweise kein Opfer zu sein, keine von „diesen“ Vergewaltigten. Ihre Abwehr führt zu einem Verschließen vor ihren Freunden, ihrem Mann und dem „Vorfall“ selbst. Liv möchte aber unbedingt ihr Trauma bewältigen, sie möchte Macht über ihr eigenes Leben zurückgewinnen, die Erinnerungen, die Gedanken der Situation aufgeben, sich der Welt stellen und wagt daher die Konfrontation: „[ich] Erkannte, dass es doch einen Wert hat, diese Erfahrung zu teilen. Niemand bleibt nach einer Vergewaltigung liegen. Niemand. Alle stehen auf. Niemand hört danach auf, Mensch zu sein.“


Etwas was für mich wichtig gewesen wäre, ist eine Triggerwarnung am Anfang des Buches. Ansonsten hat mich dieses nachdenkliche, starke Buch sehr überzeugt – und auch mitgenommen. Reflektion über gewisse Situationen, wie eine Frau oft angesehen wird und wahrgenommen wird, kamen mir, als Frau, auch bekannt vor und schufen eine Verbindung mit dem Text.

Das Buch birgt eine so deutliche Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit. Sie zeigt die Auswirkungen auf eine Vergewaltigte, die Folgen und Prägungen. „Macht“ schafft ein Bewusstsein für das Thema und rüttelt wach.


Furre, Heidi: „Macht“, übersetzt von Hippe, Karoline, 2023 im Dumont Verlag erschienen. Danke an Dumont für das Rezensionsexemplar. Dies hat meine Meinung nicht beeinflusst.

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